Der Neubeginn

Schon 1945 besinnen sich die Dortmunder Radsportler darauf, dass Sport die vielen schrecklichen Erinnerungen an den Krieg und die damit verbundenen und immer noch anhaltenden Entbehrungen, wenn auch nur für Stunden, vergessen lassen kann. So richtet der Radrennclub Dortmund 08 gleich im Juli nach Kriegsende in der Kampfbahn "Rote Erde" ein Mannschaftsrennen aus. Aufgrund der noch geringen Anzahl von Radsportlern gehen Berufsfahrer und Amateure gemeinsam an den Start. Auch Erich Bautz, Ehrenmitglied des RV Sturmvogel, trägt sich wieder in die Starterlisten ein. Mit dem Berliner Fritz Anger bildet Bautz ein schlagkräftiges Gespann, dass sich den Sieg in der Kampfbahn nicht streitig machen lässt.

Im Mai 1946 nimmt dann auch der RV Sturmvogel 1925 Dortmund mit seinem neuen Vorsitzenden Helmut Berker den Vereinsbetrieb wieder auf. Schon die erste Rennmannschaft nach dem Krieg kann dem Vereinsnamen alle Ehre machen. Horst-Günther Brüchler, Willi Hagen und Erich Rissmann sind es, die wieder mehrmals bei Straßenrennen auf dem Podium stehen und die Siegerblumen in Empfang nehmen. In der Sparte des Bahnrennsportes – auch hier zeigt sich der Verein aktiv – ist es der "Sturmvogel" Hans Krause, der sich mehrfach gut in Szene setzen kann und den Straßenrennfahrern des Vereins in nichts nachsteht.

Unter dem Trainer Karl – genannt "Pelle" – Mertens sticht gleich eine ganze Gruppe von Rennfahrern hervor, die mehrfach die Konkurrenten hinter sich lässt. Zu dieser Mannschaft zählen auch Hans Rupprath und Hugo Rickert. Der ausgezeichnete Bahnfahrer "Hennes" Rupprath ist es, der ab 1952 für mehrere Jahre die "Armbinde der Westfalenhalle" verteidigen kann. Bei dieser "Armbinde" handelt es sich um eine Wanderauszeichnung, die bei jeder Veranstaltung in der Westfalenhalle beginnend mit deren Neueröffnung im Jahre 1952 für den Sieg in dem stets auch ausge-tragenen 4000 Meter-Verfolgungsrennen vergeben wird. Und Hugo Rickert? Wer kennt nicht diesen Namen? Er steht für einen erfolgreichen Rennfahrer auf der Straße und nachfolgend für einen hervorragenden Erbauer von Fahrradrahmen. In seiner Werkstatt entstehen seit nunmehr 50 Jahren Präzisionsrahmen, die den Vergleich mit keiner anderen "Edelschmiede" scheuen müssen. Weit über die Landesgrenzen hinaus ist der Name Hugo Rickert für ausgezeichnete Qualität bekannt. Viele Titel sind auf den von ihm auf Maß gebauten Rahmen errungen worden. Es wundert daher nicht, dass noch heute ein von Hugo Rickert gefertigter Rahmen ein begehrtes Objekt ist.
 
Im Jahre 1954 wird auf Bestreben des 1. Vorsitzenden Willy Kramps der Verein unter dem Namen RV Sturmvogel 1925 Dortmund e.V. in das Vereinsregister beim Amtsgericht Dortmund eingetragen. Mit dem Zusatz "e.V." und einer überarbeiteten Satzung geht es in eine neue Ära.

Bei einem Radrennen des 1. Schritts in Dortmund-Schüren wird 1957 ein junger Mann beobachtet, der später zu einem der erfolgreichsten deutschen Rennsportler werden sollte. Neben anderen Experten ist der ebenfalls anwesende Erich Bautz überzeugt, dass sich dieser junge Rennfahrer im Radsport durchsetzen wird. Und so kommt es dann auch. Dieter Kemper – so der Name des jungen Sportlers – findet im RV Sturmvogel seine sportliche Heimat und die Mischung aus Begabung, Durchsetzungsvermögen, Willenskraft, Trainingsfleiß und adäquater Betreuung lässt schnell erste Erfolge eintreten. Nach einer mit vielen Siegen gespickten Anfangszeit gelingt es ihm innerhalb kürzester Zeit von der niedrigsten Amateurklasse gleich in die Nationalmannschaft aufzusteigen. Ausschlaggebend hierfür ist einmal die bravouröse Vorstellung beim Continental-Preis in Hannover. Diesen, als Sichtungsrennen ausgetragenen Wettbewerb, beendet Dieter Kemper nach einer großen kämpferischen Leistung unter den Augen des Nationaltrainers in den vorderen Rängen. Ein weiteres Mal wird man seitens des Bund Deutscher Radfahrer beim Sichtungsrennen in Hameln an der Weser auf Dieter Kemper aufmerksam. Nicht nur das sehr bergige Streckenprofil sorgt für die Schwere des Rennens. Vielmehr machen die widrigsten Witterungsbedingungen mit großer Kälte und Schneetreiben den Fahrern schwer zu schaffen. Viele Rennfahrer brechen diese Tortur vorzeitig ab – nicht aber Dieter Kemper. Er beißt sich durch und beendet diese Ausscheidungsschlacht wieder unter den ersten Preisträgern. Die Grundlage für diese Härte holt sich Dieter Kemper in vielen Trainingskilometern. Gemeinsam mit einigen anderen Rennfahrern dieser Zeit lässt er sich nicht etwa zu den Wettbe-werben chauffieren oder nutzt die Bundesbahn, um die Startorte zu erreichen. Nein, Dieter Kemper fährt die Städte mit dem Fahrrad an. Selbst in fern abgelegene Regionen der Bundesrepublik, wie zum Beispiel zum Sichtungsrennen ins bayrische Herpersdorf, reist dieser Mann mit dem Fahrrad. Es versteht sich von selbst, dass die Heimreise auf gleiche Art erledigt wird.

Ebenfalls in diese Epoche fällt die Entdeckung eines weiteren späteren Spitzenfahrers des RV Sturmvogel. Auch Norbert Leiske lässt bei dem Rennen zum 1. Schritt in Dortmund-Schüren 1957 erstmals sein Talent durchblicken. Sein gesamtes Leistungsvermögen wird sich jedoch erst später entfalten.

Im September des Jahres 1957 gewinnt der RV Sturmvogel durch die Auflösung des Radsportvereins Wanderlust Hörde mehrere neue Mitglieder hinzu. Einige von ihnen erweisen sich als wahre Glücksgriffe für den Verein. Besonders stolz darf nämlich der RV Sturmvogel auf die vom Hörder Radsportclub hinzugewonnenen Werner Siebert und Gino Reisenauer sein. Welchen Gewinn man mit Werner Siebert gemacht hat, wird die Zukunft zeigen. Günter Reisenauer, allseits "Gino" genannt, ist schon zu dieser Zeit bei Straßenrennen im gesamten Bundesgebiet ein gefürchteter Gegner, der auf jedem Terrain bestehen kann. Auch der Nationaltrainer lernt die Fähigkeiten von "Gino" zu schätzen. Immer öfter steht er im Blickpunkt des Bundestrainers und kann ihn schließlich überzeugen. Es folgt die Berufung in den Nationalkader. 1959 erfährt das Aushängeschild des RV Sturmvogel wohl den Höhepunkt seiner Karriere. Zunächst gestaltet Günter Reisenauer die in Coburg stattfindende Deutsche Meisterschaft maßgeblich mit. Auf einem anspruchsvollen Kurs kann sich "Gino" mit ungefähr einem Dutzend Rennfahrer vom Hauptfeld absetzen. Im weiteren Rennverlauf fallen immer mehr Fahrer aus der Spitzengruppe zurück, so dass sich schließlich nur eine kleine Gruppe dem Ziel nähert. Da das Hauptfeld bereits hoffnungslos abgehängt ist, muss der neue Deutsche Meister aus der wenige Rennfahrer umfassenden Spitzengruppe kommen. In dieser Gruppe befindet sich auch der Fahrer des RV Sturmvogel. Leider kostet eine kurze Unentschlossenheit Günter Reisenauer den möglichen Meistertitel, zumindest aber einen Platz auf dem Podium. Schon auf der Zielgeraden befindlich liegt "Gino" in aussichtsreicher Position. Plötzlich scheren die übrigen Spitzenfahrer zur anderen Straßenseite aus und belauern sich einen Moment. Hätte Günter Reisenauer hier den Spurt angezogen, eine Medaille wäre ihm sicher gewesen, so die Meinung vieler Rennbeobachter. Die Meisterschaft beendet "Gino" auf dem fünften Platz – eine Spitzenplatzierung, aber in Anbetracht der Möglichkeiten .......... Aufgrund dieser und anderer hervorragenden Leistungen folgt seitens des Bundestrainers noch im gleichen Jahr die Nominierung von Günter Reisenauer in das Aufgebot zur Weltmeisterschaft im niederländischen Zandvoort.